Bruce Springsteen – Die Vermessung des Amerikanischen Traums

Bruce Springsteen auf der Bühne. Craig O’Neal, Creative Commons Attribution Share Alike 2.0

„We learned more from a three-minute record, baby
Than we ever learned in school“
– Bruce Springsteen „No Surrender“, 1984


Im Laufe seiner Musikerkarriere wurden Bruce Springsteen schon viele Titel verliehen. In den Siebzigern war der „Boss“, wie er von seiner E-Street-Band und seinen Fans liebevoll genannt wird, die Zukunft des Rock’n’Roll, später der Anwalt des einfachen Mannes, ein Arbeiter des Rock und sogar ein Geisterfahrer auf dem Highway der Träume. Seine Lieder sind meist angesiedelt zwischen den Polen harte Arbeit, Gemeinschaft, Freiheit, Melancholie und (unerfüllte) Sehnsucht. Springsteen selbst hat einmal erklärt: „I’ve spent most of my creative life measuring the distance between that American promise and American reality.“ Der Schlüssel zu seinem Erfolg als Songwriter und Künstler liegt in der Glaubwürdigkeit seiner Person und seiner Songtexte und damit einer ungebrochenen Identifikation mit den Themen, über die er singt.

Born in the U.S.A.

Es ist sicherlich einer der am häufigsten fehlinterpretierten Songs in der Rockmusik. Seit nunmehr 30 Jahren zählen Lieder von Bruce Springsteen zum musikalischen Inventar bei Parteienkonventen der beiden großen Parteien in den USA – insbesondere bei patriotisch gesinnten Republikanern. „Born in the U.S.A.“ hat aufgrund seiner vordergründigen Einfachheit und Eingängigkeit eine Sonderstellung inne. Dabei fragt man sich unwillkürlich, ob das Publikum – im Zweifel alles englische Muttersprachler – den Inhalt des Songs wirklich verstanden hat. Es handelt sich bei „Born in the U.S.A.“ keinesfalls um einen „All-American-Song“, eine Lobhudelei über die Großartigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika, die der Titel auf den ersten Blick erwarten lässt. Vielmehr ist es eine düstere Anklage des Vietnamkriegs und dessen mangelhafte Bewältigung in der amerikanischen Gesellschaft, geschrieben aus der Perspektive eines verzweifelten Kriegsheimkehrers. Es ist eine klare Absage an einen chauvinistischen Patriotismus.

„Born down in a dead man’s town
The first kick I took was when I hit the ground
You end up like a dog that’s been beat too much
Till you spend half your life just covering up“

(Bruce Springsteen „Born in the U.S.A.“ 1984)

Veröffentlicht wurde der Song auf dem Höhepunkt der Reagan-Ära, einer Zeit der patriotischen Aufwallung, in der Kritik an den USA nicht gerade en vogue war. Konsequent hatte Bruce Springsteen der Präsidentschaftskampagne von Ronald Reagan 1984 die Nutzung seines Songs untersagt. Obwohl „Born in the U.S.A.“ bei Liveauftritten der E-Street-Band trotz seiner Beliebtheit vergleichsweise selten gespielt wird, kann man jedes Mal die Wut und Leidenschaft erkennen, mit der Springsteen den Refrain mit heiserer Stimme ins Mikro schreit. Es hat zur Verwirrung über den Song beigetragen, dass die Strophen meistens ein wenig unverständlich vorgetragen werden. Auch das patriotische „Stars and Stripes“ Albumcover von 1984 relativiert die kritische Aussage des Songs. Letztlich hören die Menschen in dem Song das, was sie hören wollen.

Musikalisch ist „Born in the U.S.A.“ durch seine Härte, Direktheit und seinen repetitiven Charakter verglichen mit den komplexeren Kompositionen im Songrepertoire der Band weniger interessant. Die größte Auswirkung hatte der Song wohl auf Bruce Springsteen selbst, indem er ihn von einem apolitischen Künstler aus der Arbeiterklasse zu einem engagierten Verteidiger der Entrechteten gemacht hat. In seinem Kern ist „Born in the U.S.A.“ ein echter Protestsong.

Die Schattenseite des „American Dream“

Was macht die Faszination von Bruce Springsteens Musik aus? Wer einmal ein Konzert von Springsteen besucht hat oder sich einen der zahlreichen Livemitschnitte etwa von seiner Tour 2016 auf Youtube angesehen hat, kann beobachten, wie die Konzertbesucher bis in die letzte Reihe seine Lieder mitsingen. Sein Liveset besteht in der Regel zu 80 bis 90 Prozent aus Songmaterial aus der Zeit bis zu seinem Megaseller Album „Born in the U.S.A.“ von 1984. In dieser Phase hat Springsteen mit Zustandsbeschreibungen der Lebenssituation aus der Unter- und Mittelschicht die kleinstädtische Seele Amerikas ausgelotet und eine leise sozialkritische Note entwickelt. Das sind Texte, bei denen Bruce Springsteen aufgrund seiner eigenen Herkunft und Wurzeln in Freehold/New Jersey eine hohe Glaubwürdigkeit besitzt und mit denen sich eine beständig große Zuhörerschaft identifizieren kann.

architecture-1867047_640Viele der Songs von Bruce Springsteen fangen mit großer Prägnanz die Härten und die Rauheit des Alltags in Smalltown-USA ein, dort wo der „Kleine Mann“ täglich aufs Neue um seinen Anteil am Amerikanischen Traum kämpfen muss. Ungleichheit und fehlende Teilhabe schwingen immer thematisch in seinen Songs mit. Dabei sind die Lieder von Bruce Springsteen nie politischer Aktivismus. Obwohl er selbst ein überzeugter Liberaler ist, vermeidet er bewusst den Eindruck, der Demokratischen Partei zu eng verbunden zu sein. Er hat erst 2004 damit begonnen, politische Kandidaten – namentlich John Kerry – zu unterstützen. Springsteen fühlt sich der Graswurzelebene verbunden, ruft bei seinen Konzerten sein Publikum dazu auf, lokale Wohlfahrtsgruppen zu unterstützten und gewährt Nahrungsmitteltafeln für Arme und Obdachlose Zugang zu seinen Konzertveranstaltungen. Bruce Springsteen liefert in seinen Songs keine Lösungen oder stellt politische Forderungen, wie das Leben seiner geschundenen Charaktere verbessert werden könnte. Dies öffnet wiederum viel Raum für unterschiedliche Formen der Identifikation und Interpretation.

Songwriting

Bruce Springsteen ist ein authentischer Geschichtenerzähler, der lebendige Charaktere mit viel Liebe zum Detail erschafft. Seine Protagonisten stehen am Rande der Gesellschaft und sind auf der Suche nach Erlösung. Springsteen schließt damit an seine großen Vorbilder Woody Guthrie, Roy Orbison, Bob Dylan und Hank Williams an. Literarische Fixpunkte sind Autoren wie Jim Thompson, James M. Cain oder Elmore Leonard, deren Beschreibung menschlicher Abgründe seine Lyrics prägen. Meist sind es subjektive Ich-Erzähler oder neutrale Beobachter, die die Gedankenwelt und Handlungen der Akteure nachvollziehbar machen. Die Lyrics sind fein ziselierte Episoden aus dem Leben eines Jedermanns. Springsteen macht die Gefühle und Probleme seiner beladenen Helden erfahrbar und nachvollziehbar.

In „The River“ möchte ein junger Vater seine Familie durchbringen und muss dabei erkennen, dass seine Lebensträume nach und nach zerplatzen. Er beschreibt die triste Szenerie einer sogenannten Muss-Heirat und den Prozess des schnellen Erwachsenwerdens bedroht durch Armut als typisches Problem der Arbeiterklasse seit den siebziger Jahren.

„I got a job working construction for the Johnstown Company
But lately there ain’t been much work on account of the economy
Now all them things that seemed so important
Well mister they vanished right into the air
Now I just act like I don’t remember
Mary acts like she don’t care.“

(Bruce Springsteen „The River“ 1981)

Inspiriert wurde Springsteen zu diesem Lied durch Gespräche mit seinem Schwager, der nach dem Zusammenbruch der Bauindustrie in New Jersey seinen gut bezahlten Job verloren hatte und die kleine Familie mit schlecht bezahlten Arbeiten über Wasser halten musste. Bruce Springsteens Schwester war noch in der High-School mit siebzehn Jahren schwanger geworden. Nachdem sie den Song zum ersten Mal bei einem Konzert gehört hatte, umarmte sie ihren Bruder und sagte: „Das ist mein Leben“. Es sei, so Springsteen heute, die beste Kritik gewesen, die er jemals bekommen habe.

Freizeitpark, Roller Coaster, AchterbahnAtlantic City“ ist eine kleine Mafia-Ballade, die angesiedelt ist in dem heruntergekommenen Spielerparadies an der Küste New Jerseys. Ein Mann nimmt darin in einer finanziellen Notlage einen Job als Killer der Mafia an und flüchtet mit seiner Freundin in die titelgebende Stadt. Eine klassische Verlierergeschichte vor dem Hintergrund des schönen Scheins und des Glamours von Atlantic City. Während der Streitereien mit seiner Freundin, sinniert der Protagonist zudem über die Unvermeidlichkeit des Todes. Wirtschaftlichen Umstände zwingen die Hauptperson zu außergewöhnlichen Schritten.

„Now I been lookin‘ for a job but it’s hard to find
Down here it’s just winners and losers and don’t get caught on the wrong side of that line
Well I’m tired of comin‘ out on the losin‘ end
So honey last night I met this guy and I’m gonna do a little favor for him“

(Bruce Springsteen „Atlantic City“ 1982)

Auch hier hatte sich Bruce Springsteen von realen Ereignissen rund um einen Mafiakrieg in Philadelphia im Jahre 1981 anregen lassen.

gadsden-1616084_1280Racing in the Streets“ stammt von dem Album „Darkness on the Edge of Town“ aus dem Jahr 1978 und gehört nach Überzeugung der Kritiker und Bruce Springsteen selbst zu einem seiner besten Songs. Das Album markiert den Übergang zu ernsten Themen, in denen der Sänger inhaltlich die Arbeiterklasse für sich entdeckt, die ständig der Gefahr ausgesetzt ist, das Wenige was sie besitzt auch noch zu verlieren. In diesem Song verbindet Springsteen die Liebe der Amerikaner zu Autos mit einer Beziehungsgeschichte über zerstörte Lebensentwürfe. Ein Drag-Race Fahrer träumt davon, seine Stadt und seine Freundin zu verlassen, um ein besseres Leben zu beginnen. Das Auto als Ausdruck von Freiheit und Vehikel des Aufbruchs bzw. Ausbruchs ist ein immer wiederkehrendes Motiv in seinen Texten (z.B. „Thunder Road“, „Born to Run“, „Stolen Car“).

„I met her on the strip three years ago
In a Camaro with this dude from L.A.
I blew that Camaro off my back and drove that little girl away
But now there’s wrinkles around my baby’s eyes
And she cries herself to sleep at night“

(Bruce Springsteen „Racing in the Streets“ 1978)

Am Ende des Songs obsiegt die Vernunft und das Verantwortungsgefühl. Der Mann kehrt zu seiner Freundin zurück.

Bruce Springsteen wählt für sein Songwriting häufig einen ‚cineastischen‘ Ansatz mit starken Bildern und Personifizierungen, die die Dramatik seiner Lyrics verstärken. Die einzelnen Strophen formen sich zu einer Geschichte, die wie eine Art Songfilm in der Phantasie des Hörers abläuft. Der Sänger selbst behauptet: „A pop song is a condensed version of a life in three minutes“. In seinen Songs kann man immer auch einen Teil der modernen amerikanischen Geschichte miterleben. Springsteen selbst bemerkt dazu: „I was interested in writing like my heroes did. They wrote about their times. […] I was interested in doing what some of those musicians and artists did by trying to encapsule the times that I lived in.“ Springsteens Ziel ist es, aus der Umwelt, die er beobachtet, immer wieder die Momente der reinen Erfahrung zu filtern und zu erschaffen, um sein Publikum daran teilhaben zu lassen.

Die Rettung des Amerikanischen Traums

water-tower-1534037_1280Bruce Springsteens ältere Songs wirken heute ein wenig aus der Zeit gefallen. In den USA versenkt der hart arbeitende Familienvater, der die tägliche Unbill des Lebens zu meistern versucht, gerade seine letzten Hoffnungen in einen alternden Milliardär im Präsidentenamt, der ihm die Rückkehr zu den guten alten Zeiten verspricht. Es sind Zeiten, die auch Springsteen besungen hat von der Kleinstadt als Idyll und Sehnsuchtsort. Für Songs über prekär beschäftigte Angestellte im Dienstleistungssektor oder der von der „Hire-and-Fire“-Kultur geprägten IT-Industrie fehlt dem inzwischen 67-jährigen mittlerweile der persönliche Zugang. Aber obwohl die Inhalte der Songs etwas angestaubt klingen mögen, spricht Bruce Springsteen sein Publikum noch immer über seine Themen und die Emotionen an, die seine Songtexte auslösen.

Sein zentrales Motiv, die Vermessung des Amerikanischen Traums und die Diskrepanz zwischen Versprechen und Wirklichkeit, zwischen Gemeinschaft und deren gegenwärtiger Spaltung, bleiben aktuell. Zumal mit der Inauguration von Donald J. Trump als 45. Präsident der USA deutlich geworden ist, dass der Amerikanische Traum nicht mehr für Alle und nicht einmal mehr in den USA selbst Gültigkeit besitzen soll. In seinem Album „The Ghost of Tom Joad“ von 1985, stark beeinflusst von John Steinbecks „Früchte des Zorns“, hatte Bruce Springsteen bereits die Perspektive der Zuwanderer in den USA eingenommen. Daher wird die Betonung des Amerikanischen Traums als universelles Versprechen sein Songwriting auch die nächsten Jahre begleiten.


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